Freitag, 24. Oktober 2014

Strom- und Gaskunden müssen vor einer Preiserhöhung rechtzeitig über deren Anlass, Voraussetzungen und Umfang informiert werden

 Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass alle Strom- und Gaskunden (also auch die Tarifkunden) schon vorab über die Gründe einer Preiserhöhung informiert werden müssen. Es reicht nicht aus, wenn ein nachträgliches Kündigungsrecht eingeräumt worden ist. Demnach verstießen die deutschen Preisvorschriften von 2005 bis 2008 gegen europäisches Recht.

Es wurde bei dem Urteil betont, dass das EU-Recht mehr Transparenz fordere. Das beinhaltet nicht nur ein Kündigungsrecht, sondern auch die Möglichkeit, dass Kunden gegen eine Preiserhöhung klagen können. Damit sie diese Rechte überhaupt wahrnehmen und sachgerecht entscheiden können, brauchen sie rechtzeitig vor dem Inkrafttreten der Änderung über deren Anlass, Voraussetzungen und Umfang die Informationen dazu.


Jetzt muss zum Abschluss aber wieder der Bundesgerichtshof über den Streit entscheiden. Mit dem Urteil vom Europäischen Gerichtshof könnte es sein, dass zumindest die Tarifkunden, die sich gegen eine Preiserhöhung gewehrt hatten, diese nicht bezahlen müssen (Geld zurück).

Pressemitteilung vom Gerichtshof der Europäischen Union:

Verbraucher, die im Rahmen der allgemeinen Versorgungspflicht mit Strom und Gas beliefert werden, müssen rechtzeitig vor Inkrafttreten jeder Preiserhöhung über deren Anlass, Voraussetzungen und Umfang informiert werden

Da die vorliegend in Rede stehende deutsche Regelung eine solche Information nicht vorsieht, verstößt sie gegen die „Stromrichtlinie“ 2003/54 und gegen die „Gasrichtlinie“ 2003/55

Der Bundesgerichtshof (Deutschland) ist mit zwei Rechtsstreitigkeiten zwischen Strom- und Gaskunden und ihren Versorgern betreffend mehrere Preiserhöhungen in den Jahren 2005 bis 2008 befasst. Die Kunden, die unter die allgemeine Versorgungspflicht fallen (Tarifkunden)1, sind der Ansicht, dass diese Erhöhungen unbillig gewesen seien und auf rechtswidrigen Klauseln beruht hätten.²

Die allgemeinen Bedingungen der mit Verbrauchern geschlossenen Verträge waren durch die im maßgeblichen Zeitraum geltende deutsche Regelung2 bestimmt und aufgrund dieser Regelung unmittelbarer Bestandteil der mit den Tarifkunden geschlossenen Verträge. Die Regelung erlaubte es den Versorgern, die Strom- und Gaspreise einseitig zu ändern, ohne den Anlass, die Voraussetzungen oder den Umfang der Änderung anzugeben, stellte jedoch sicher, dass die Kunden über die Preiserhöhung benachrichtigt wurden und den Vertrag gegebenenfalls kündigen konnten.

In Beantwortung der vom Bundesgerichtshof vorgelegten Fragen stellt der Gerichtshof mit seinem heutigen Urteil fest, dass die „Stromrichtlinie“ 2003/543 und die „Gasrichtlinie“ 2003/554 einer nationalen Regelung (wie der vorliegend in Rede stehenden deutschen Regelung) entgegenstehen, die den Inhalt von Strom- und Gaslieferungsverträgen mit Verbrauchern, die unter die allgemeine Versorgungspflicht fallen5, bestimmt und für die Versorger die Möglichkeit vorsieht, den Tarif dieser Lieferungen zu ändern, ohne jedoch zu gewährleisten, dass die Verbraucher rechtzeitig vor Inkrafttreten der Änderung über deren Anlass, Voraussetzungen und Umfang informiert werden.

Der Gerichtshof führt insbesondere aus, dass die Mitgliedstaaten gemäß diesen beiden Richtlinien in Bezug auf die Transparenz der allgemeinen Vertragsbedingungen einen hohen Verbraucherschutz gewährleisten müssen.

Der Gerichtshof stellt fest, dass den Kunden neben ihrem (in den Richtlinien für den Fall einer Preisänderung vorgesehenen) Recht, sich vom Liefervertrag zu lösen, auch die Befugnis erteilt werden muss, gegen eine solche Änderung vorzugehen.

Um diese Rechte in vollem Umfang und tatsächlich nutzen und in voller Sachkenntnis eine Entscheidung über eine mögliche Lösung vom Vertrag oder ein Vorgehen gegen die Änderung des Lieferpreises treffen zu können, müssen die unter die allgemeine Versorgungspflicht fallenden Kunden rechtzeitig vor dem Inkrafttreten der Änderung über deren Anlass, Voraussetzungen und Umfang informiert werden.

Den Antrag, die finanziellen Folgen des Urteils so weit wie möglich zu beschränken, weist der Gerichtshof zurück und lehnt damit eine zeitliche Begrenzung der Wirkungen seines Urteils ab. Hierzu stellt der Gerichtshof insbesondere fest, dass nicht dargelegt wurde, dass die Infragestellung der Rechtsverhältnisse, deren Wirkungen sich in der Vergangenheit erschöpft haben, rückwirkend die gesamte Branche der Strom- und Gasversorgung in Deutschland erschüttern würde. Die Auslegung der Richtlinien 2003/54 und 2003/55 gilt somit für alle im zeitlichen Anwendungsbereich dieser Richtlinien erfolgten Änderungen6.

1 In diesem Fall muss der Versorger im Rahmen der durch die nationalen Rechtsvorschriften auferlegten Verpflichtungen zu den in diesen Rechtsvorschriften vorgesehenen Bedingungen mit den Kunden, die darum ersuchen und die dazu berechtigt sind, Verträge schließen.

2 Verordnung über Allgemeine Bedingungen für die Gasversorgung von Tarifkunden (AVBGasV) vom 21. Juni 1979 (BGBl. 1979 I, S. 676), Verordnung über Allgemeine Bedingungen für die Elektrizitätsversorgung von Tarifkunden (AVBEltV) vom 21. Juni 1979 (BGBl. 1979 I, S. 684) und Verordnung über Allgemeine Bedingungen für die Grundversorgung von Haushaltskunden und die Ersatzversorgung mit Elektrizität aus dem Niederspannungsnetz (Stromgrundversorgungsverordnung – StromGVV) vom 26. Oktober 2006 (BGBl. 2006 I, S. 2391), die die vorgenannte Verordnung abgelöst hat.

3 Richtlinie 2003/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2003 über gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 96/92/EG (ABl. L 176, S. 37, und – Berichtigung – ABl. 2004, L 16, S. 74). Die Richtlinie von 2003 ist durch die Richtlinie 2009/72/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt (ABl. L 211, S. 55) aufgehoben worden.

4 Richtlinie 2003/55/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2003 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 98/30/EG (ABl. L 176, S. 57). Die Richtlinie von 2003 ist durch die Richtlinie 2009/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt (ABl. L 211, S. 94) aufgehoben worden.

5 Zur Informationspflicht gegenüber Kunden, für die ein Sondertarif gilt (Sonderkunden), vgl. das Urteil des Gerichtshofs vom 21. März 2013, RWE Vertrieb (C-92/11), und die Pressemitteilung Nr. 36/13. Nach diesem Urteil sind die dem Verbraucher vor Vertragsschluss in transparenter Weise übermittelten Informationen zum Anlass und zum Modus einer Änderung der Entgelte für die Gasversorgung von wesentlicher Bedeutung. Diese Feststellung gilt jedoch nicht für die Verträge, die mit Kunden geschlossen wurden, die unter den Standardtarif fallen (Tarifkunden, wie in den vorliegenden Rechtssachen). Die mit den betreffenden Kunden in der Rechtssache RWE Vertrieb (Sonderkunden) geschlossenen Verträge wurden nämlich nicht nur durch die Richtlinie 2003/55 geregelt, sondern auch durch die Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (ABl. L 95, S. 29). Der Inhalt der mit den Tarifkunden geschlossenen Verträge wird aber durch bindende deutsche Rechtsvorschriften bestimmt, so dass die Richtlinie über missbräuchliche Klauseln auf sie nicht anwendbar ist.

 6 Die Richtlinien 2003/54 und 2003/55 sind am 4. August 2003 in Kraft getreten und mussten bis spätestens 1. Juli 2004 in nationales Recht umgesetzt werden. Sie wurden mit Wirkung zum 3. März 2011 aufgehoben (siehe oben, Fn. 3 und 4).

Quelle: Pressemitteilung vom Gerichtshof der Europäischen Union vom 23. Oktober 2014, Nr. 140/14

Hier können Sie sich diese Pressemittelung auch als PDF herunterladen (166 KB): Urteil des Gerichtshofs in den verbundenen Rechtssachen C-359/11, C-400/11Schulz

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