Berlin: (hib/KOS) Als „schwere Niederlage der Sicherheitsbehörden“ hat
Heinz Fromm die über Jahre hinweg erfolglosen Bemühungen von
Geheimdiensten und Polizei zur Aufklärung der inzwischen dem
„Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) angelasteten Erschießung von
neun türkisch- oder griechischstämmigen Kleinunternehmern sowie einer
Polizistin zwischen 2000 und 2007 bezeichnet.
Dies sei eine „schwere
Last, die bleiben wird“, sagte der scheidende Präsident des Bundesamts
für Verfassungsschutz (BfV) zum Auftakt seiner Vernehmung am
Donnerstagnachmittag vor dem unter Vorsitz von Sebastian Edathy (SPD)
tagenden Untersuchungsausschuss. Die Vernichtung von Akten, die auch im
Zusammenhang mit der Mordserie stehen, durch einen BfV-Referatsleiter
Ende 2011 nach dem Auffliegen der NSU-Zelle hat aus Sicht des Zeugen zu
einem „schweren Ansehensverlust“ für die Bundesbehörde geführt, „dessen
Folgen nicht absehbar sind“. Im Zuge der Debatte über diese
Löschungsaktion hat Fromm vergangenen Montag seinen Rückzug von der
BfV-Spitze für Ende Juli angekündigt.
Der Ausschuss soll Pannen und
Fehlgriffe bei den Ermittlungen zu den zehn Tötungsdelikten
durchleuchten.
Fromm betonte, er habe in seinem Amt „immer
einen Beitrag zur Bekämpfung des Rechtsextremismus leisten wollen“. Bei
seiner Behörde habe man zwar durchaus die Gefahr gesehen, dass einzelne
Personen oder Kleinstgruppen aus dem rechtsextremen Spektrum Anschläge
verüben könnten, doch habe man sich das Entstehen terroristischer Zellen
nach dem Muster der RAF nicht vorstellen können.
Es hätten keine
Erkenntnisse über einen rechtsextremen Hintergrund der Mordserie
existiert. Auch der unter dem Namen „Operation Rennsteig“ zwischen 1996
und 2003 praktizierte Einsatz von Spitzeln beim „Thüringer
Heimatschutz“, bei dem bis zum Untertauchen 1998 auch das NSU-Trio aktiv
war, habe nichts zur Aufklärung beigesteuert. Die geschredderten Akten
bezogen sich auf diese Maßnahme von Fromms Behörde, des Thüringer
Verfassungsschutzes und des Militärischen Abschirmdienstes. Am
Mittwochabend konnten die Mitglieder des Ausschusses die verbliebenen
BfV-Unterlagen zu dieser Aktion ungeschwärzt einsehen und kamen zu dem
Schluss, dass weder die NSU-Zelle noch Personen aus deren Umfeld als
V-Leute angeworben wurden.
Bei seiner Befragung am Donnerstag
stellte Fromm selbstkritisch die Frage, ob man mehr hätte wissen können,
und sprach von einer „analytischen Engführung“, die sich im Rückblick
als „Fehler“ erwiesen habe. Nach seinen Erläuterungen gründete man die
Einschätzung rechtsextremistischer Gewaltgefahren auf präzise
Erkenntnisse zu konkreten Taten in der Vergangenheit. Der Zeuge fragte
indes, ob man die rechtsextreme Ideologie unzureichend begriffen und
deshalb nicht bedacht habe, dass „Schlimmeres“ möglich sein könne.
Fromm: „Verstehen wir diese Bedrohung richtig?“ In der Rückschau nannte
er es auch einen Fehler, dass die Suche nach dem NSU-Trio eingestellt
worden sei, nachdem keine Informationen zu deren Untertauchen mehr
geflossen seien.
Für die umstrittene Aktenlöschung habe er „keine
überzeugende Erklärung“, so der amtierende BfV-Chef auf eine Frage
Edathys. Möglicherweise sei diese Vernichtung auf eine von ihm in der
Behörde angestoßene Debatte über Löschfristen zurückzuführen, in deren
Gefolge auch Unterlagen aus dem Bereich der Beschaffung und der
Anwerbung von Informanten vernichtet worden seien, bei denen dies zuvor
nicht der Fall gewesen sei. Vor Fromms Auftritt vernahm der Ausschuss in
geheimer Sitzung jenen Referatsleiter, der die Verschredderung
angeordnet hatte und gegen den deshalb ein Disziplinarverfahren
eingeleitet wurde. Nach dessen Anhörung kritisierten die Obleute der
fünf Fraktionen einhellig, dass beim BfV offenbar keine klaren Regeln
über Löschfristen existierten. Das sei „eher eine Lotterie als ein
seriöses Prinzip“, so Unions-Sprecher Clemens Binninger.
Als Lehre
aus den fehlgeschlagenen Ermittlungen zur Mordserie plädierte Fromm für
einen effektiveren Informationsaustausch zwischen den Behörden von Bund
und Ländern. Innerhalb des Verfassungsschutz-Verbunds müssten ohne
Vorsortierung „alle Online-Informationen allen zugänglich gemacht
werden“, das sei der entscheidende Punkt.
„Das kann man so
sagen“, kommentierte der Zeuge die Feststellung Edathys, dass besonders
die Auskunftsbereitschaft der Landesämter gegenüber dem BfV „ausbaubar
ist“. Im Blick auf die „Operation Rennsteig“ bezeichnete es Fromm als
„nicht sinnvoll“, dass zwar seine Behörde den Thüringer
Verfassungsschutz über die von ihr eingesetzten V-Leute habe
unterrichten müssen, dies aber umgekehrt nicht gegolten habe. Er habe
erst aus den Medien erfahren, dass das Landesamt eine zentrale Figur des
„Thüringer Heimatschutzes“ als Informanten geführt habe.
Nach der
Vernehmung Fromms wollte der Ausschuss noch Wolfgang Cremer anhören,
den ehemaligen Chef der Abteilung Rechtsextremismus beim BfV.
Pressemitteilung Deutscher Bundestag, hib Nr. 334, vom 5. Juli 2012