Berlin: (hib/AW) Das von der Regierungskoalition geplante Betreuungsgeld
stößt bei Experten mehrheitlich auf Ablehnung. Sechs der elf vom
Familienausschuss zu einer öffentlichen Anhörung geladenen Experten
lehnten den entsprechenden Gesetzentwurf der Fraktionen CDU/CSU und FDP (17/9917)
am Freitag Nachmittag ab. Vier Sachverständige unterstützen ihn. Der
elfte, Jörg Freese von der Bundesvereinigung der kommunalen
Spitzenverbände, wollte sich zwar nicht für oder gegen die geplante
Leistung festlegen. Aber er appellierte eindringlich an die
Parlamentarier, ein rechtlich einwandfreies Gesetz zu verabschieden. Es
wäre für die Kommunen in Deutschland eine extrem missliche Lage, wenn
das Gesetz nach einem Jahr vom Bundesverfassungsgericht wieder „gekippt“
würde und die Kommunen ihren Bürgern erklären müssten, warum sie das
Betreuungsgeld plötzlich nicht mehr beziehen können.
Über die
verfassungsrechtliche Beurteilung waren sich die geladenen
Sachverständigen jedoch höchst uneins. Während der Jurist Winfried Kluth
von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg das Betreuungsgeld
im Einklang mit dem Grundgesetz sah, sprachen sich seine Kollegen Ute
Sacksofsky von der Goethe Universität in Frankfurt am Main und Joachim
Wieland von der deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften in
Speyer aus verfassungsrechtlichen Gründen gegen den Gesetzentwurf aus.
Der Staat dürfe keine Kompensation an seine Bürger zahlen, wenn diese
eine staatliche Einrichtung wie eine Kindertagesstätte nicht in Anspruch
nehmen. Schon deshalb nicht, weil die staatlichen Kindertagesstätten
für die Eltern nicht kostenfrei seien. Kluth hingegen machte geltend,
dass die Gebühren für einen Kita-Platz weit unterhalb der eigentlichen
Kosten liegen. Durch das Betreuungsgeld werde also eine Rechtslage
herbeigeführt, in der sowohl die Eltern finanziell durch den Staat
unterstützt werden, die ihre Kinder nicht in einer Kita betreuen lassen,
als auch jene, die dies tun.
Birgit Kelle, Vorsitzende des
Vereins „Frau 200plus“, kritisierte in der Anhörung die ständigen
Versuche der Politik, Eltern in die ein oder andere Richtung
beeinflussen zu wollen. Vor allem würde nicht ausreichend differenziert
zwischen den unterschiedlichen Bedürfnissen von Eltern und ihren
Kindern. Es sei sicherlich richtig, dass fünf bis zehn Prozent der
Kinder in Deutschland aus sozial schwierigen Elternhäusern in einer
Kindertagesstätte betreut werden sollten. Dies könne aber nicht
bedeuten, dass die große Mehrheit durch die öffentliche Diskussion
genötigt werde, dies auch zu tun. Das Bundesverfassungsgericht habe
mehrfach entschieden, dass alle Erziehungsmodelle vom Staat neutral zu
fördern sind. Deshalb müsse das Betreuungsgeld gezahlt werden.
Franziska
Papst vom Paritätischen Gesamtverband hingegen sprach sich gegen das
Betreuungsgeld aus. Es würde nur dann gezahlt, wenn Eltern ihre ein- und
zweijährigen Kinder nicht in einer staatlich geförderten Einrichtung
betreuen lassen. Dies könne zur Folge haben, dass Eltern das Geld
erhalten, wenn sie ihre Kinder in einer nicht geförderten Einrichtung
betreuen lassen. Dann könne aber nicht mehr von einer Anerkennung der
Erziehungsleistung gesprochen werden. Außerdem sei es fraglich, ob in
solchen Einrichtungen die nötigen Qualitätsstandards gewahrt seien.
Papst lehnte zudem ab, dass das Betreuungsgeld auf Leistungen nach dem
Zweiten Sozialgesetzbuch angerechnet werden soll. Dies komme einer
Einteilung in „gute“ und „schlechte“ Eltern gleich.
Mehrere
Sachverständige wehrten sich gegen die in der öffentlichen Diskussion
verbreitete Einschätzung, dass eine Betreuung in Tagesstätten
ausschließlich zum Vorteil der Kinder sei. Rainer Böhm, Leitender Arzt
am Sozialpädiatrischen Zentrum in Bielefeld, führte Studien an, nach
denen Kleinkinder in Krippen und Kitas einem erhöhten Stressfaktor
ausgesetzt sind und noch in späteren Jahren ein erhöhtes
Aggressionspotenzial aufweisen. Und Johannes Schroeter,
Landesvorsitzender des Familienbundes der Katholiken in Bayern, wehrte
sich gegen die Behauptung, nur in Betreuungseinrichtungen würde eine
frühkindliche Bildung vermittelt.
Schließlich würden Kinder das Sprechen
in erster Linie im Elternhaus erlernen. Dies sei ja wohl frühkindliche
Bildung. Susanne Viernickel von der Alice Salomon Hochschule in Berlin
warnte vor „zu einfachen Antworten“ in dieser Frage. Es sei nicht
entscheidend, ob ein Kind in einer Kita, von einer Tagesmutter oder
ausschließlich von den Eltern erzogen wird. Entscheidend sei die
Qualität der Betreuung und der Erziehung. Eine echte Wahlfreiheit für
Eltern existiere jedoch nur dann, wenn genügend Kitaplätze vorhanden
seien.
Aus ökonomischen Gründen lehnten Holger Bonin vom Zentrum
für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim und Axel Plünnecke vom
Institut der deutschen Wirtschaft in Köln die Einführung eines
Betreuungsgeldes ab.
Sollte es dem Staat nicht gelingen,
Betreuungsmöglichkeiten flächendeckend und bedarfsgerecht anzubieten,
dann stelle die Gewährung des Betreuungsgeldes ein Kostenrisiko für die
öffentlichen Haushalte dar, argumentierte Bonin. Plünnecke ergänzte, es
sei zu befürchten, dass gerade sozial schwache Mütter und Väter die
Leistung in Anspruch nehmen und somit noch länger dem Erwerbsleben fern
bleiben.
Pressemitteilung Deutscher Bundestag,hib Nr. 399, Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend - 14.09.2012