Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts verhandelt am
10. Juli 2012, 10.00 Uhr,
im Sitzungssaal des Bundesverfassungsgerichts,
Amtssitz „Waldstadt“,
Rintheimer Querallee 11, 76131 Karlsruhe
über mehrere Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 32
BVerfGG. Die Anträge sind darauf gerichtet, dem Bundespräsidenten bis
zur Entscheidung über die jeweilige Hauptsache zu untersagen, die von
Bundestag und Bundesrat am 29. Juni 2012 als Maßnahmen zur Bewältigung
der Staatsschuldenkrise im Euro-Währungsgebiet beschlossenen Gesetze zu
unterzeichnen und auszufertigen. Im Einzelnen handelt es sich hierbei
vor allem um das Zustimmungsgesetz zum Vertrag vom 2. Februar 2012 zur
Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM-Vertrag), um
das Zustimmungsgesetz zum Vertrag vom 2. März 2012 über Stabilität,
Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion
(Fiskalpakt) sowie um das Zustimmungsgesetz zum Beschluss des
Europäischen Rates vom 25. März 2011 zur Änderung des Artikels 136 des
Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union hinsichtlich eines
Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro
ist.
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts verhandelt über folgende
Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung:
- Der geschäftsführende Vorstand des Vereins „Mehr Demokratie e.V.“ hat
- zusammen mit mehr als 12.000 Bürgerinnen und Bürgern -
Verfassungsbeschwerde gegen die drei genannten Zustimmungsgesetze mit
der Begründung erhoben, durch das Inkrafttreten der Gesetze bzw. der
völkerrechtlichen Verträge werde Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG in Verbindung
mit Art. 20 Abs. 1 und 2 GG und Art. 79 Abs. 3 GG verletzt. Mit seiner
Zustimmung zum ESM-Vertrag habe sich der Deutsche Bundestag in
verfassungswidriger Weise seiner parlamentarischen Gestaltungs- und
Kontrollmöglichkeiten und damit seiner Haushaltsautonomie entäußert. Da
der ESM-Vertrag zu einer unbegrenzten Haftung der Bundesrepublik
Deutschland führen könne, überstiegen die eingegangenen Haftungsrisiken
das zur Wahrung der Handlungsfähigkeit des Deutschen Bundestages
Verantwortbare und beeinträchtigten ihr über Art. 38 Abs. 1 GG
vermitteltes Recht auf demokratische Mitgestaltung. Auch die Zustimmung
zum Fiskalpakt verstoße gegen demokratische Grundsätze. Der Erlass einer
einstweiligen Anordnung sei geboten, weil die Bundesrepublik Deutschland
im Fall einer Ratifikation der Verträge völkerrechtlich irreversibel
gebunden wäre. Die Nachteile einer verzögerten Ratifikation wögen
demgegenüber weniger schwer: Der Fiskalvertrag trete ohnehin frühestens
am 1. Januar 2013 in Kraft. Im Hinblick auf ein verzögertes
Inkrafttreten des ESM-Vertrages werde zwar keineswegs verkannt, dass der
Bundesrepublik Deutschland im Zusammenhang mit dem Versuch einer
wirtschaftlichen und finanziellen Stabilisierung der Eurozone eine
politisch und ökonomisch bedeutende Rolle zukomme; nachhaltige Schäden
durch eine zeitliche Verzögerung der völkerrechtlichen Verbindlichkeit
des ESM-Vertrages seien angesichts des bereits existierenden vorläufigen
Rettungsschirmes EFSF jedoch nicht ersichtlich. Abgesehen davon dürften
befürchtete, aber nicht eindeutig zu prognostizierende und häufig
irrationale Marktreaktionen von vornherein nicht in eine Abwägung mit
den Folgen schwerer Grundrechtsverletzungen einbezogen werden (2 BvR
1438/12).
- Die Abgeordneten der Fraktion „DIE LINKE“ des Deutschen Bundestages
sehen sich ebenfalls in ihren Rechten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG in
Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 2 GG und Art. 79 Abs. 3 GG durch die
Zustimmungsgesetze verletzt und beantragen daher, deren Inkrafttreten
bis zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der
Hauptsache aufzuschieben. Der Fiskalpakt binde den verfassungsändernden
Gesetzgeber völkerrechtlich, die bestehenden Regelungen zur
Schuldenbegrenzung im Grundgesetz beizubehalten und verbiete ihre
Streichung. Sonst sehe das Grundgesetz eine Unabänderlichkeit jedoch nur
für überragende Rechtsgüter und Prinzipien vor. Die in Art. 79 Abs. 3 GG
niedergelegte Verfassungsidentität stehe aber nicht zur Disposition der
gewählten Organe; eine solche Änderung könne nur die verfassungsgebende
Gewalt nach Art. 146 GG im Wege einer Volksabstimmung vornehmen. Indem
er es ermögliche, dass die Bundeshaushalte durch die Europäische
Kommission determiniert und genehmigt werden müssten, entziehe der
Fiskalvertrag dem Bundestag auf Dauer die haushaltspolitische
Gesamtverantwortung. Der Sinn des Wahlakts werde entleert, wenn keine
politische Gestaltungsmöglichkeit mehr bestehe, ja im Bereich der
Sozialausgaben sogar voraussichtlich unter Verstoß gegen das
Sozialstaatsprinzip und die Menschenwürde Ausgabenkürzungen umzusetzen
sein werden. Durch den ESM-Vertrag werde die haushaltspolitische
Gesamtverantwortung noch stärker beeinträchtigt, denn er enthalte eine
Reihe von Zahlungsverpflichtungen, deren Eintritt dem Willen des
Bundestages entzogen sei. Im Rahmen der Nachteilsabwägung wögen die
Folgen der Bindung an verfassungswidrige Verträge, die das Wahlrecht
beeinträchtigen, gegenüber behaupteten, aber durch nichts belegten
Auswirkungen auf die Psyche der Märkte schwerer (2 BvR 1439/12).
- Die Bundestagsfraktion „DIE LINKE“ hat gegen den Deutschen Bundestag
darüber hinaus Organklage wegen der Verabschiedung der o.g. Gesetze
erhoben. Die Verpflichtungen Deutschlands, die durch Fiskalpakt und ESM
eingegangen und ermöglicht würden, engten die Gestaltungsmöglichkeiten
des Deutschen Bundestages so stark ein, dass ein „Politikwechsel durch
Akzentsetzung im Haushalt“ - etwa im sozialen Bereich - ohne Verstoß
gegen völkerrechtliche Verträge nicht mehr möglich sei. Hierdurch werde
Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 2 GG und
Art. 79 Abs. 3 GG verletzt. Sie ist darüber hinaus der Auffassung, dass
die umfangreichen Änderungen der Verträge und die Übertragung von
Kompetenzen auf EU-Organe nicht im vereinfachten Änderungsverfahren
hätten vorgenommen werden dürfen. Dadurch würden die Mitwirkungsrechte
des Deutschen Bundestages in einem gemäß Art. 48 EUV einzuberufenden
Konvent verletzt (2 BvE 6/12).
- Der Beschwerdeführer des Verfahrens 2 BvR 1390/12, der zugleich
Mitglied des Deutschen Bundestages ist, macht mit seiner mit einem
Eilantrag verbundenen Verfassungsbeschwerde die Verletzung seiner Rechte
aus Art. 38 Abs. 1 und Abs. 2 GG geltend. Die vorgesehene Ergänzung des
Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union durch Einfügung
des Art. 136 Abs. 3 AEUV führe zu einem Abbau der unionsrechtlichen
Sicherungen des Demokratiegebots; zudem sei der Wortlaut des Art. 136
Abs. 3 AEUV derart unbestimmt, dass die Mitgliedsstaaten der
Europäischen Union nicht länger die „Herren der Verträge“ seien. Der ESM
begründe einen dauerhaften Haftungs- und Leistungsautomatismus, der
Entscheidungen gegen den Willen Deutschlands ermögliche. Die für den ESM
handelnden Personen und Organe seien nur unzureichend an
parlamentarische Entscheidungen rückgebunden, insbesondere seien die
Plenar- und sonstigen Parlamentsvorbehalte unzureichend ausgestaltet.
Das Haftungsvolumen des ESM sei unverantwortbar. Im Zusammenspiel mit
Art. 136 Abs. 3 AEUV führe der ESM dazu, dass die Europäische Union zu
einer Haftungs- und Transferunion werde. Das Gesetz zur finanziellen
Beteiligung am Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESMFinG) sei darüber
hinaus bereits formell verfassungswidrig, weil es nicht ordnungsgemäß in
das Gesetzgebungsverfahren eingebracht worden sei. Der Fiskalpakt treffe
Regelungen, die alleine der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes
vorbehalten seien. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung sei geboten,
weil die Folgen, die entstünden, wenn die angegriffenen Gesetze in Kraft
treten, äußerst schwerwiegend wären.
- Die Beschwerdeführer des Verfahrens 2 BvR 1421/12 rügen im
Wesentlichen, dass mit der Änderung des Vertrages über die Arbeitsweise
der Europäischen Union durch Einfügung des Art. 136 Abs. 3 AEUV sowie
mit der Zustimmung zum Europäischen Stabilitätsmechanismus und zum
Fiskalpakt die Schwelle zum europäischen Bundesstaat überschritten sei
und die Staatlichkeit und Souveränität Deutschlands dadurch
weitestgehend aufgehoben werde. Außerdem erfahre die Europäische Union
eine Umwandlung von einer Stabilitätsunion in eine Finanz-, Sozial- und
Transferunion. Dies verletzte die Grundrechte deutscher Bürger in
vielfältiger Weise, insbesondere ihr Recht auf demokratische Teilhabe,
aber auch - wegen der inflatorischen Wirkungen dieser Politik - die
Eigentumsgewährleistung. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung sei
geboten, weil die durch die Ratifizierung der Verträge eintretende
völkerrechtliche Bindung nicht mehr rückgängig gemacht werden könnte und
das Bundesverfassungsgericht nur so nicht vor „vollendete Tatsachen“
gestellt werde und eine effektive Entscheidung über die Hauptsache
treffen könne.
- Der Beschwerdeführer des Verfahrens 2 BvR 1440/12 wendet sich gegen
die Errichtung des ESM und beantragt ebenfalls den Erlass einer
einstweiligen Anordnung. Der ESM verstoße gegen das Demokratieprinzip
aus Art. 20 GG, wodurch die Grenzen einer Kompetenzübertragung nach Art.
23 GG i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG verletzt seien. Zugleich werde gegen das
Recht jedes einzelnen Bürgers aus Art. 38 Abs. 1 GG verstoßen. An den
ESM würden haushaltsrelevante Entscheidungsbefugnisse übertragen,
insbesondere komme es zu einer Vergemeinschaftung von Staatsschulden.
Deutschland träfen schwer kalkulierbare Haftungsrisiken und
Nachschusspflichten aus Art. 25 Abs. 2 ESM-Vertrag und Art. 42 Abs. 4
ESM-Vertrag. Ein Leistungsautomatismus werde durch Kapitalabrufe
begründet; Kontroll- und Mitwirkungsrechte im Hinblick auf die Art und
Weise der Mittelverwendung fehlten. Es sei nicht möglich, den
ESM-Vertrag verfassungskonform auszulegen.
Die Verhandlungsgliederung wird zu einem späteren Zeitpunkt mitgeteilt.
(Quelle und weitere Hinweise finden Sie hier am Ende: www.bundesverfassungsgericht.de - die Red.)