Pressemitteilung Bundesverfassungsgericht:
Das Plenarverfahren hat seinen Ursprung in dem von der Bayerischen und
der Hessischen Staatsregierung anhängig gemachten Verfahren der
abstrakten Normenkontrolle, in dem der Zweite Senat des
Bundesverfassungsgerichts darüber zu entscheiden hat, ob § 13, § 14 Abs.
1, 2 und 4 und § 15 Luftsicherheitsgesetz (LuftSiG) mit dem Grundgesetz
vereinbar sind (2 BvF 1/05; vgl. Pressemitteilung Nr. 140/2009 vom 21.
Dezember 2009). Die Vorschriften regeln die Voraussetzungen und
Modalitäten, unter denen die Streitkräfte zur Abwehr besonders schwerer
von Luftfahrzeugen ausgehender Unglücksfälle eingesetzt werden können.
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hatte in dem
Normenkontrollverfahren das Plenum angerufen, da er beabsichtigte, von
Rechtsauffassungen abzuweichen, die dem Urteil des Ersten Senats vom 15.
Februar 2006 zum Luftsicherheitsgesetz (1 BvR 357/05; vgl.
Pressemitteilung Nr. 11/2006 vom 15. Februar 2006) zugrunde liegen.
Mit diesem Urteil hatte der Erste Senat die Bestimmung des § 14 Abs. 3
LuftSiG, der die Streitkräfte zum Abschuss als Waffe gegen das Leben von
Menschen eingesetzter Luftfahrzeuge ermächtigte, unter anderem wegen
Verstoßes gegen das Grundrecht auf Leben und gegen die Menschenwürde für
verfassungswidrig und nichtig erklärt. Die Entscheidung des Ersten
Senats stützte sich dabei auf die Annahmen,
1. dass sich die Gesetzgebungsbefugnis des Bundes für die Regelungen der
§§ 13 bis 15 LuftSiG nur auf Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG stützen
lasse, wonach die Streitkräfte zur regionalen und überregionalen
Unterstützung der Polizeikräfte der Länder bei Naturkatastrophen oder
einem besonders schweren Unglücksfall eingesetzt werden können,
2. dass Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG einen Einsatz der
Streitkräfte mit spezifisch militärischen Waffen nicht zulasse, und
3. dass die in § 13 Abs. 3 Satz 2 und 3 LuftSiG geregelte Eilkompetenz
des Bundesverteidigungsministers in Fällen des überregionalen
Katastrophennotstandes nicht mit Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG vereinbar sei,
der eine Entscheidung der Bundesregierung verlange.
Diese drei Rechtsauffassungen hat der Zweite Senat mit Beschluss vom 3.
Mai 2011 zum Gegenstand der Vorlage an das Plenum gemacht.
Das Plenum des Bundesverfassungsgerichts hat über die Vorlagefragen wie
folgt entschieden:
1. Die Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes für die Regelungen der §§
13 bis 15 LuftSiG ergibt sich nicht aus Art. 35 Abs. 2 und 3 GG, sondern
aus Art. 73 Nr. 6 GG a. F. (heute Art. 73 Abs. 1 Nr. 6 GG), der dem Bund
die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz für den Luftverkehr zuweist.
2. Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG schließen die Verwendung
spezifisch militärischer Waffen bei Einsätzen der Streitkräfte nach
diesen Vorschriften nicht grundsätzlich aus, lassen sie aber nur unter
engen Voraussetzungen zu, die insbesondere sicherstellen, dass nicht die
strikten Begrenzungen unterlaufen werden, die einem bewaffneten Einsatz
der Streitkräfte im Inneren durch Art. 87a Abs. 4 GG gesetzt sind.
3. Der Streitkräfteeinsatz in Fällen des überregionalen
Katastrophennotstandes nach Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG ist, auch in
Eilfällen, nur aufgrund eines Beschlusses der Bundesregierung zulässig.
Der Richter Gaier hat hinsichtlich der Vorlagefrage zu 2. ein
Sondervotum abgegeben.
Dem Plenarbeschluss liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:
1. Gesetzgebungskompetenz des Bundes
Die Bestimmungen der Art. 35 Abs. 2 und 3 GG bieten für Bundesrecht, das
den Einsatz der Streitkräfte im Katastrophennotstand regelt, keine
ausdrückliche Kompetenzgrundlage. Ungeschriebene Gesetzgebungsbefugnisse
des Bundes in Sachnormen außerhalb des VII. Abschnitts des Grundgesetzes
aufzusuchen, liegt in systematischer Hinsicht und nach dem Schutzzweck
der föderalen Zuständigkeitsordnung nicht nahe.
Die Gesetzgebungsbefugnis des Bundes für die §§ 13 ff. LuftSiG folgt als
Annexkompetenz aus Art. 73 Nr. 6 GG a. F. (heute Art. 73 Abs. 1 Nr. 6
GG), der dem Bund die Gesetzgebungskompetenz für den Luftverkehr
zuweist. Soweit der Bund für ein bestimmtes Sachgebiet die
Gesetzgebungszuständigkeit hat, steht ihm als Annexkompetenz auch die
Gesetzgebungsbefugnis für die damit in einem notwendigen Zusammenhang
stehenden Regelungen zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung in
diesem Bereich zu. Die Gesetzgebungszuständigkeit für den Luftverkehr
umfasst als Annex jedenfalls die Befugnis, Regelungen zur Abwehr solcher
Gefahren zu treffen, die gerade aus dem Luftverkehr herrühren. Die
Bestimmungen der §§ 13 ff. LuftSiG enthalten ein eigenständiges
Gefahrenabwehrrecht des Bundes. Sie regeln nicht nur die
Mittelbereitstellung für den Fall der Unterstützung von
Gefahrenabwehrmaßnahmen der Länder, sondern enthalten zugleich
unmittelbar außenwirksame Ermächtigungen zum Streitkräfteeinsatz.
2. Verfassungsrechtliche Zulässigkeit eines Streitkräfteeinsatzes mit
spezifisch militärischen Waffen
Außer zur Verteidigung dürfen nach Art. 87a Abs. 2 GG die Streitkräfte
nur eingesetzt werden, soweit das Grundgesetz es ausdrücklich zulässt.
Die begrenzende Funktion dieser Regelung ist durch strikte Texttreue bei
der Auslegung der grundgesetzlichen Bestimmungen über den Einsatz der
Streitkräfte im Inneren zu wahren. Die Verfassung begrenzt einen
Streitkräfteeinsatz im Inneren in bewusster Entscheidung auf äußerste
Ausnahmefälle. Es ist jedoch weder durch den Wortlaut des Art. 35 Abs. 2
Satz 2 und Abs. 3 GG noch die Systematik des Grundgesetzes zwingend
vorgegeben, dass der Streitkräfteeinsatz nach diesen Bestimmungen auf
diejenigen Mittel beschränkt ist, die nach dem Gefahrenabwehrrecht des
Einsatzlandes der Polizei zur Verfügung stehen oder verfügbar gemacht
werden dürften. Vielmehr spricht der Regelungszweck, eine wirksame
Gefahrenabwehr zu ermöglichen, für eine Auslegung, die unter den engen
Voraussetzungen, unter denen ein Einsatz der Streitkräfte überhaupt in
Betracht kommt, die Verwendung ihrer spezifischen Mittel nicht generell
ausschließt.
Auch eine Gesamtbetrachtung der Gesetzesmaterialien zwingt nicht zu der
Annahme, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber eine Beschränkung der
einsetzbaren Mittel beabsichtigt hat. Aus der Gesetzgebungsgeschichte
wird weder ein eindeutiger Wille des verfassungsändernden Gesetzgebers
hinsichtlich der in den Fällen des Art. 35 Abs. 2 und 3 GG einsetzbaren
Mittel noch eine klare Konzeption in der Frage des anwendbaren Rechts
erkennbar. Zwar stand dem verfassungsändernden Gesetzgeber als typischer
Anwendungsfall der Verfassungsbestimmungen zum Katastrophennotstand
nicht die Abwehr von Gefahren durch ein als Angriffsmittel genutztes
Luftfahrzeug, sondern vor allem die Erfahrung der norddeutschen
Flutkatastrophe des Jahres 1962 vor Augen. Dies schließt es jedoch nicht
aus, Art. 35 Abs. 2 und 3 GG auch auf andersartige von Wortlaut und
Systematik der Vorschrift erfasste Gefahrenfälle anzuwenden, und zwingt
nicht zu einer angesichts heutiger Bedrohungslagen nicht mehr
zweckgerechten Auslegung dieser Bestimmungen.
Der Einsatz der Streitkräfte als solcher wie auch der Einsatz spezifisch
militärischer Kampfmittel kommt allerdings nur unter engen
Voraussetzungen in Betracht. Insbesondere sind die
verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 87a Abs. 4 GG zu
berücksichtigen, der vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen den
Einsatz der Streitkräfte zur Bewältigung innerer Auseinandersetzungen
besonders strengen Beschränkungen unterwirft. Diese Beschränkungen
dürfen nicht dadurch umgangen werden, dass der Einsatz statt auf der
Grundlage des Art. 87a Abs. 4 GG auf der des Art. 35 Abs. 2 oder 3 GG
erfolgt.
Enge Grenzen sind dem Streitkräfteeinsatz im Katastrophennotstand nach
Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 Satz 1 GG durch das Tatbestandsmerkmal
des besonders schweren Unglücksfalls gesetzt. Hiervon erfasst werden nur
ungewöhnliche Ausnahmesituationen katastrophischen Ausmaßes.
Insbesondere stellt nicht eine Gefahrensituation, die ein Land mittels
seiner Polizei nicht zu beherrschen imstande ist, allein schon aus
diesem Grund einen besonders schweren Unglücksfall im Sinne des Art. 35
Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 Satz 1 GG dar. Die Voraussetzungen des besonders
schweren Unglücksfalls gemäß Art. 35 Abs. 2 und 3 GG bestimmen sich in
Abgrenzung zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben für den Einsatz der
Streitkräfte im inneren Notstand. Auf der Grundlage von Art. 35 Abs. 2
und 3 GG können Streitkräfte daher nur in Ausnahmesituationen eingesetzt
werden, die nicht von der in Art. 87a Abs. 4 GG geregelten Art sind. So
stellen namentlich Gefahren für Menschen und Sachen, die aus oder von
einer demonstrierenden Menschenmenge drohen, keinen besonders schweren
Unglücksfall im Sinne des Art. 35 GG dar. Denn nach Art. 87a Abs. 4 Satz
1 GG dürfen selbst zur Bekämpfung organisierter und militärisch
bewaffneter Aufständischer Streitkräfte auch dann, wenn das betreffende
Land zur Bekämpfung der Gefahr nicht bereit oder in der Lage ist, nur
unter der Voraussetzung eingesetzt werden, dass Gefahr für den Bestand
oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines
Landes besteht.
Schließlich muss der Unglücksfall bereits vorliegen. Dies setzt zwar
nicht notwendigerweise einen bereits eingetretenen Schaden voraus. Der
Unglücksverlauf muss aber bereits begonnen haben und der Eintritt eines
katastrophalen Schadens mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit
unmittelbar bevorstehen.
Der Einsatz der Streitkräfte wie der Einsatz spezifisch militärischer
Abwehrmittel ist zudem auch in einer solchen Gefahrenlage nur als ultima
ratio zulässig. Eine umfassende Gefahrenabwehr für den Luftraum mittels
der Streitkräfte kann auf Art. 35 Abs. 2 und 3 GG nicht gestützt werden.
3. Anordnungskompetenz der Bundesregierung
Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG ermächtigt allein die Bundesregierung als
Kollegialorgan, im Fall des überregionalen Katastrophennotstandes
Einheiten der Streitkräfte einzusetzen. Danach besteht auch für Eilfälle
weder eine Befugnis der Bundesregierung, die ihr zugewiesene
Beschlusszuständigkeit auf ein einzelnes Mitglied zur delegieren, noch
eine Befugnis des Gesetzgebers zu einer abweichenden
Zuständigkeitsbestimmung. Die Ressortzuständigkeit der Bundesminister
(Art. 65 Satz 2 GG) und die Zuweisung der Befehls- und Kommandogewalt
über die Streitkräfte an den Bundesminister der Verteidigung (Art. 65a
GG) können eine abweichende Auslegung nicht begründen, weil Art. 35 Abs.
3 Satz 1 GG für die Befugnis, über den Einsatz der Streitkräfte im
überregionalen Katastrophennotstand zu entscheiden, eine speziellere
Regelung trifft. Eine abweichende Zuständigkeit für Eilfälle kann auch
nicht aus einem auf wirksame Gefahrenabwehr gerichteten Zweck des Art.
35 Abs. 3 GG oder aus staatlichen Schutzpflichten abgeleitet werden. Für
die Auslegung der Vorschriften zum Streitkräfteeinsatz im Inneren, die
in einer politisch hochumstrittenen Materie als Ergebnis ausführlicher,
kontroverser Diskussionen zustande gekommen sind, gilt das Gebot
strikter Texttreue. Jedenfalls deshalb verbietet sich eine auf die
Vermeidung von Schutzlücken gerichtete teleologische
Verfassungsinterpretation, die vom bewusst und in Übereinstimmung mit
der Systematik gewählten Wortlaut abweicht.
Sondervotum des Richters Gaier:
Das Grundgesetz in seiner gegenwärtigen Fassung schließt den
Kampfeinsatz der Streitkräfte im Inneren mit spezifisch militärischen
Waffen sowohl in Fällen des regionalen (Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG) wie in
Fällen des überregionalen (Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG)
Katastrophennotstandes aus. Mit seiner Antwort auf die zweite
Vorlagefrage würdigt das Plenum weder hinreichend den Wortlaut der
einschlägigen Verfassungsnormen unter Berücksichtigung der
Entstehungsgeschichte noch erfolgt eine systematische Auslegung mit
Blick auf die Einheit der Verfassung als „vornehmstes
Interpretationsprinzip“. Insoweit hat der Plenarbeschluss im Ergebnis
die Wirkungen einer Verfassungsänderung.
1. Auch und gerade seitdem nach der Notstandsgesetzgebung anders als vor
1968 der Einsatz des Militärs im Inneren nicht mehr schlechthin
unzulässig ist, bleibt strenge Restriktion geboten. Es ist
sicherzustellen, dass die Streitkräfte niemals als innenpolitisches
Machtinstrument eingesetzt werden. Abgesehen von dem extremen
Ausnahmefall des Staatsnotstandes, in dem nur zur Bekämpfung
organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer als letztes
Mittel auch Kampfeinsätze der Streitkräfte im Inland zulässig sind (Art.
87a Abs. 4 GG), bleibt die Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit
allein Aufgabe der Polizei. Ihre Funktion ist die der Gefahrenabwehr und
nur über hierfür geeignete und erforderliche Waffen darf die Polizei
verfügen; hingegen sind Kampfeinsätze der Streitkräfte auf die
Vernichtung des Gegners gerichtet, was spezifisch militärische
Bewaffnung notwendig macht. Mit dieser strikten Trennung zieht unsere
Verfassung aus historischen Erfahrungen die gebotenen Konsequenzen und
macht den grundsätzlichen Ausschluss der Streitkräfte von bewaffneten
Einsätzen im Inland zu einem fundamentalen Prinzip des Staatswesens. Wer
hieran etwas ändern will, muss die zu einer Verfassungsänderung
erforderlichen parlamentarischen Mehrheiten für sich gewinnen, was
Anfang 2009 nicht gelungen ist. Es ist nicht Aufgabe des
Bundesverfassungsgerichts, hier korrigierend einzugreifen.
2. Dass ein Einsatz der Streitkräfte mit militärischer Bewaffnung in
beiden Fällen des Katastrophennotstandes von Verfassungs wegen untersagt
ist, lässt sich mit einer historischen Verfassungsinterpretation, vor
allem aber mit einer systematischen Auslegung des Grundgesetzes
begründen. Entgegen der Auffassung des Plenums hat der Rechtsausschuss
des Bundestages im Rahmen der Notstandsgesetzgebung im Jahr 1968 eine
klare Entscheidung getroffen und in seinem damaligen Bericht, der
Grundlage für den Gesetzgebungsbeschluss des Bundestages zur
Verfassungsänderung war, unmissverständlich vorgeschlagen, den Einsatz
militärisch bewaffneter Streitkräfte auf den Staatsnotstand als eine
besonders gefährdende Situation des inneren Notstandes (Art. 87a Abs. 4
GG) zu beschränken. Zudem lässt das Plenum völlig außer Acht, dass zur
Zeit der Notstandsgesetzgebung eine weitergehende Zulassung des
Einsatzes militärisch bewaffneter Einheiten der Streitkräfte im Inneren
politisch nicht durchsetzbar gewesen wäre. Im Einklang damit steht die
Systematik, die das Grundgesetz mit der Implementierung der
„Notstandsverfassung“ erfahren hat. Die strikte Trennung der Regelung
des Katastrophennotstandes einerseits von der des inneren Notstandes
andererseits belegt, dass diese beiden Fälle des Streitkräfteeinsatzes
im Inneren völlig unterschiedliche, sich nicht überschneidende
Anwendungsbereiche haben und deshalb nicht durch die Zulassung
spezifisch militärischer Bewaffnung auch in Fällen des
Katastrophennotstandes vermengt werden dürfen. Zudem lässt auch der
Umstand, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber mit der
Bundesregierung einem Kollegialorgan die Zuständigkeit für die
Einsatzentscheidung zuweist, nur den Schluss zu, dass er von vornherein
den Einsatz spezifisch militärischer Waffen im Katastrophennotstand
nicht für erforderlich hielt und damit auch nicht legitimieren wollte.
Denn Gefährdungslagen, denen effektiv nur mit dem Einsatz solcher Waffen
mit Vernichtungskraft begegnet werden kann, sind dadurch gekennzeichnet,
dass ihrer Beseitigung jede zeitliche Verzögerung abträglich ist. Daher
wäre die Betrauung eines in der Entscheidungsfindung vergleichsweise
schwerfälligen Kollegialorgans mit der Initiativbefugnis zum
Einschreiten gerade auch mit Blick auf die vom verfassungsändernden
Gesetzgeber angestrebte „wirksame Bekämpfung“ dysfunktional.
3. Der Plenarbeschluss kann mit den von ihm entwickelten Kriterien eine
Umgehung der engen Voraussetzungen des inneren Notstandes nach Art. 87a
Abs. 4 GG durch die weniger strengen Voraussetzungen des
Katastrophennotstandes nicht verhindern. Der Versuch der weiteren
Eingrenzung des bewaffneten Streitkräfteeinsatzes durch das Erfordernis
eines „unmittelbar bevorstehenden“ Schadenseintritts „von
katastrophischen Dimensionen“ wird der nötigen Klarheit und
Berechenbarkeit nicht gerecht. Es handelt sich um gänzlich unbestimmte,
gerichtlich kaum effektiv kontrollierbare Kategorien, die in der
täglichen Anwendungspraxis - etwa bei regierungskritischen
Großdemonstrationen - viel Spielraum für subjektive Einschätzungen, wenn
nicht gar voreilige Prognosen lassen. Das ist jedenfalls bei
Inlandseinsätzen militärisch bewaffneter Streitkräfte nicht hinnehmbar.
Im Schatten eines Arsenals militärischer Waffen kann freie
Meinungsäußerung schwerlich gedeihen.
4. Im Übrigen bietet der durch den Plenarbeschluss nun erweiterte
Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Inneren für den Schutz der
Bevölkerung namentlich vor terroristischen Angriffen keine messbaren
Vorteile. Zwar mag es danach nunmehr zulässig sein, dass Kampfflugzeuge
unter den Voraussetzungen des § 14 Abs. 1 LuftSiG „Luftfahrzeuge
abdrängen, zur Landung zwingen, den Einsatz von Waffengewalt androhen
oder Warnschüsse abgeben“. Die erfolgreiche Gefahrenabwehr durch solche
Maßnahmen wird allerdings insbesondere in „Renegade“-Fällen deshalb
wenig wahrscheinlich sein, weil der Abschuss von Flugzeugen, in denen
sich Passagiere und Besatzungsmitglieder befinden, mit dem Grundrecht
auf Leben in Verbindung mit der Garantie der Menschenwürde unvereinbar
ist und unzulässig bleibt. Es kommt hinzu, dass - auch nach der
Auffassung des Plenums - ohne Verfassungsänderung allein die
Bundesregierung nach Maßgabe des Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG über den
Einsatz militärischer Waffen gegen Luftfahrzeuge befinden kann, was
angesichts des vergleichsweise kleinen deutschen Luftraums kaum jemals
zu einer rechtzeitigen Maßnahme führen wird. Soll danach der Rahmen, den
das materielle Verfassungsrecht für eine effektive Abwehr von Gefahren
aus dem Luftraum lässt, genutzt werden, so ist trotz der nun erweiterten
Zulässigkeit von Kampfeinsätzen eine Verfassungsänderung gleichwohl
unvermeidlich.
Pressemitteilung Nr. 63/2012 vom 17. August 2012
Beschluss vom 3. Juli 2012
2 PBvU 1/11