Montag, 2. Juli 2012

Mündliche Verhandlung in Sachen "ESM/Fiskalpakt - Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung"

Pressemitteilung Bundesverfassungsgericht vom 02.07.2012:

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts verhandelt am

        10. Juli 2012, 10.00 Uhr,
        im Sitzungssaal des Bundesverfassungsgerichts,
        Amtssitz „Waldstadt“,
        Rintheimer Querallee 11, 76131 Karlsruhe
        
über mehrere Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 32 
BVerfGG. Die Anträge sind darauf gerichtet, dem Bundespräsidenten bis 
zur Entscheidung über die jeweilige Hauptsache zu untersagen, die von 
Bundestag und Bundesrat am 29. Juni 2012 als Maßnahmen zur Bewältigung 
der Staatsschuldenkrise im Euro-Währungsgebiet beschlossenen Gesetze zu 
unterzeichnen und auszufertigen. Im Einzelnen handelt es sich hierbei 
vor allem um das Zustimmungsgesetz zum Vertrag vom 2. Februar 2012 zur 
Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM-Vertrag), um 
das Zustimmungsgesetz zum Vertrag vom 2. März 2012 über Stabilität, 
Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion 
(Fiskalpakt) sowie um das Zustimmungsgesetz zum Beschluss des 
Europäischen Rates vom 25. März 2011 zur Änderung des Artikels 136 des 
Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union hinsichtlich eines 
Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro 
ist. 

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts verhandelt über folgende 
Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung: 

- Der geschäftsführende Vorstand des Vereins „Mehr Demokratie e.V.“ hat 
- zusammen mit mehr als 12.000 Bürgerinnen und Bürgern - 
Verfassungsbeschwerde gegen die drei genannten Zustimmungsgesetze mit 
der Begründung erhoben, durch das Inkrafttreten der Gesetze bzw. der 
völkerrechtlichen Verträge werde Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG in Verbindung 
mit Art. 20 Abs. 1 und 2 GG und Art. 79 Abs. 3 GG verletzt. Mit seiner 
Zustimmung zum ESM-Vertrag habe sich der Deutsche Bundestag in 
verfassungswidriger Weise seiner parlamentarischen Gestaltungs- und 
Kontrollmöglichkeiten und damit seiner Haushaltsautonomie entäußert. Da 
der ESM-Vertrag zu einer unbegrenzten Haftung der Bundesrepublik 
Deutschland führen könne, überstiegen die eingegangenen Haftungsrisiken 
das zur Wahrung der Handlungsfähigkeit des Deutschen Bundestages 
Verantwortbare und beeinträchtigten ihr über Art. 38 Abs. 1 GG 
vermitteltes Recht auf demokratische Mitgestaltung. Auch die Zustimmung 
zum Fiskalpakt verstoße gegen demokratische Grundsätze. Der Erlass einer 
einstweiligen Anordnung sei geboten, weil die Bundesrepublik Deutschland 
im Fall einer Ratifikation der Verträge völkerrechtlich irreversibel 
gebunden wäre. Die Nachteile einer verzögerten Ratifikation wögen 
demgegenüber weniger schwer: Der Fiskalvertrag trete ohnehin frühestens 
am 1. Januar 2013 in Kraft. Im Hinblick auf ein verzögertes 
Inkrafttreten des ESM-Vertrages werde zwar keineswegs verkannt, dass der 
Bundesrepublik Deutschland im Zusammenhang mit dem Versuch einer 
wirtschaftlichen und finanziellen Stabilisierung der Eurozone eine 
politisch und ökonomisch bedeutende Rolle zukomme; nachhaltige Schäden 
durch eine zeitliche Verzögerung der völkerrechtlichen Verbindlichkeit 
des ESM-Vertrages seien angesichts des bereits existierenden vorläufigen 
Rettungsschirmes EFSF jedoch nicht ersichtlich. Abgesehen davon dürften 
befürchtete, aber nicht eindeutig zu prognostizierende und häufig 
irrationale Marktreaktionen von vornherein nicht in eine Abwägung mit 
den Folgen schwerer Grundrechtsverletzungen einbezogen werden (2 BvR 
1438/12). 

- Die Abgeordneten der Fraktion „DIE LINKE“ des Deutschen Bundestages 
sehen sich ebenfalls in ihren Rechten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG in 
Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 2 GG und Art. 79 Abs. 3 GG durch die 
Zustimmungsgesetze verletzt und beantragen daher, deren Inkrafttreten 
bis zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der 
Hauptsache aufzuschieben. Der Fiskalpakt binde den verfassungsändernden 
Gesetzgeber völkerrechtlich, die bestehenden Regelungen zur 
Schuldenbegrenzung im Grundgesetz beizubehalten und verbiete ihre 
Streichung. Sonst sehe das Grundgesetz eine Unabänderlichkeit jedoch nur 
für überragende Rechtsgüter und Prinzipien vor. Die in Art. 79 Abs. 3 GG 
niedergelegte Verfassungsidentität stehe aber nicht zur Disposition der 
gewählten Organe; eine solche Änderung könne nur die verfassungsgebende 
Gewalt nach Art. 146 GG im Wege einer Volksabstimmung vornehmen. Indem 
er es ermögliche, dass die Bundeshaushalte durch die Europäische 
Kommission determiniert und genehmigt werden müssten, entziehe der 
Fiskalvertrag dem Bundestag auf Dauer die haushaltspolitische 
Gesamtverantwortung. Der Sinn des Wahlakts werde entleert, wenn keine 
politische Gestaltungsmöglichkeit mehr bestehe, ja im Bereich der 
Sozialausgaben sogar voraussichtlich unter Verstoß gegen das 
Sozialstaatsprinzip und die Menschenwürde Ausgabenkürzungen umzusetzen 
sein werden. Durch den ESM-Vertrag werde die haushaltspolitische 
Gesamtverantwortung noch stärker beeinträchtigt, denn er enthalte eine 
Reihe von Zahlungsverpflichtungen, deren Eintritt dem Willen des 
Bundestages entzogen sei. Im Rahmen der Nachteilsabwägung wögen die 
Folgen der Bindung an verfassungswidrige Verträge, die das Wahlrecht 
beeinträchtigen, gegenüber behaupteten, aber durch nichts belegten 
Auswirkungen auf die Psyche der Märkte schwerer (2 BvR 1439/12). 

- Die Bundestagsfraktion „DIE LINKE“ hat gegen den Deutschen Bundestag 
darüber hinaus Organklage wegen der Verabschiedung der o.g. Gesetze 
erhoben. Die Verpflichtungen Deutschlands, die durch Fiskalpakt und ESM 
eingegangen und ermöglicht würden, engten die Gestaltungsmöglichkeiten 
des Deutschen Bundestages so stark ein, dass ein „Politikwechsel durch 
Akzentsetzung im Haushalt“ - etwa im sozialen Bereich - ohne Verstoß 
gegen völkerrechtliche Verträge nicht mehr möglich sei. Hierdurch werde 
Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 2 GG und 
Art. 79 Abs. 3 GG verletzt. Sie ist darüber hinaus der Auffassung, dass 
die umfangreichen Änderungen der Verträge und die Übertragung von 
Kompetenzen auf EU-Organe nicht im vereinfachten Änderungsverfahren 
hätten vorgenommen werden dürfen. Dadurch würden die Mitwirkungsrechte 
des Deutschen Bundestages in einem gemäß Art. 48 EUV einzuberufenden 
Konvent verletzt (2 BvE 6/12). 

- Der Beschwerdeführer des Verfahrens 2 BvR 1390/12, der zugleich 
Mitglied des Deutschen Bundestages ist, macht mit seiner mit einem 
Eilantrag verbundenen Verfassungsbeschwerde die Verletzung seiner Rechte 
aus Art. 38 Abs. 1 und Abs. 2 GG geltend. Die vorgesehene Ergänzung des 
Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union durch Einfügung 
des Art. 136 Abs. 3 AEUV führe zu einem Abbau der unionsrechtlichen 
Sicherungen des Demokratiegebots; zudem sei der Wortlaut des Art. 136 
Abs. 3 AEUV derart unbestimmt, dass die Mitgliedsstaaten der 
Europäischen Union nicht länger die „Herren der Verträge“ seien. Der ESM 
begründe einen dauerhaften Haftungs- und Leistungsautomatismus, der 
Entscheidungen gegen den Willen Deutschlands ermögliche. Die für den ESM 
handelnden Personen und Organe seien nur unzureichend an 
parlamentarische Entscheidungen rückgebunden, insbesondere seien die 
Plenar- und sonstigen Parlamentsvorbehalte unzureichend ausgestaltet. 
Das Haftungsvolumen des ESM sei unverantwortbar. Im Zusammenspiel mit 
Art. 136 Abs. 3 AEUV führe der ESM dazu, dass die Europäische Union zu 
einer Haftungs- und Transferunion werde. Das Gesetz zur finanziellen 
Beteiligung am Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESMFinG) sei darüber 
hinaus bereits formell verfassungswidrig, weil es nicht ordnungsgemäß in 
das Gesetzgebungsverfahren eingebracht worden sei. Der Fiskalpakt treffe 
Regelungen, die alleine der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes 
vorbehalten seien. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung sei geboten, 
weil die Folgen, die entstünden, wenn die angegriffenen Gesetze in Kraft 
treten, äußerst schwerwiegend wären. 

- Die Beschwerdeführer des Verfahrens 2 BvR 1421/12 rügen im 
Wesentlichen, dass mit der Änderung des Vertrages über die Arbeitsweise 
der Europäischen Union durch Einfügung des Art. 136 Abs. 3 AEUV sowie 
mit der Zustimmung zum Europäischen Stabilitätsmechanismus und zum 
Fiskalpakt die Schwelle zum europäischen Bundesstaat überschritten sei 
und die Staatlichkeit und Souveränität Deutschlands dadurch 
weitestgehend aufgehoben werde. Außerdem erfahre die Europäische Union 
eine Umwandlung von einer Stabilitätsunion in eine Finanz-, Sozial- und 
Transferunion. Dies verletzte die Grundrechte deutscher Bürger in 
vielfältiger Weise, insbesondere ihr Recht auf demokratische Teilhabe, 
aber auch - wegen der inflatorischen Wirkungen dieser Politik - die 
Eigentumsgewährleistung. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung sei 
geboten, weil die durch die Ratifizierung der Verträge eintretende 
völkerrechtliche Bindung nicht mehr rückgängig gemacht werden könnte und 
das Bundesverfassungsgericht nur so nicht vor „vollendete Tatsachen“ 
gestellt werde und eine effektive Entscheidung über die Hauptsache 
treffen könne. 

- Der Beschwerdeführer des Verfahrens 2 BvR 1440/12 wendet sich gegen 
die Errichtung des ESM und beantragt ebenfalls den Erlass einer 
einstweiligen Anordnung. Der ESM verstoße gegen das Demokratieprinzip 
aus Art. 20 GG, wodurch die Grenzen einer Kompetenzübertragung nach Art. 
23 GG i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG verletzt seien. Zugleich werde gegen das 
Recht jedes einzelnen Bürgers aus Art. 38 Abs. 1 GG verstoßen. An den 
ESM würden haushaltsrelevante Entscheidungsbefugnisse übertragen, 
insbesondere komme es zu einer Vergemeinschaftung von Staatsschulden. 
Deutschland träfen schwer kalkulierbare Haftungsrisiken und 
Nachschusspflichten aus Art. 25 Abs. 2 ESM-Vertrag und Art. 42 Abs. 4 
ESM-Vertrag. Ein Leistungsautomatismus werde durch Kapitalabrufe 
begründet; Kontroll- und Mitwirkungsrechte im Hinblick auf die Art und 
Weise der Mittelverwendung fehlten. Es sei nicht möglich, den 
ESM-Vertrag verfassungskonform auszulegen. 


Die Verhandlungsgliederung wird zu einem späteren Zeitpunkt mitgeteilt.

(Quelle und weitere Hinweise finden Sie hier am Ende: www.bundesverfassungsgericht.de - die Red.)

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