Mittwoch, 25. Juli 2012

Neuregelung des Sitzzuteilungsverfahrens für die Wahlen zum Deutschen Bundestag verfassungswidrig

Pressemitteilung Bundesverfassungsgericht:

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat mit seinem heute 
verkündeten Urteil entschieden, dass das mit der Änderung des 
Bundeswahlgesetzes (BWG) neu gestaltete Verfahren der Zuteilung der 
Abgeordnetensitze des Deutschen Bundestages gegen die Grundsätze der 
Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl sowie der Chancengleichheit der 
Parteien verstößt. Dies betrifft zunächst die Zuweisung von 
Ländersitzkontingenten nach der Wählerzahl (§ 6 Abs. 1 Satz 1 BWG), weil 
sie den Effekt des negativen Stimmgewichts ermöglicht. Darüber hinaus 
sind die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit 
der Parteien auch insoweit verletzt, als nach § 6 Abs. 2a BWG 
Zusatzmandate vergeben werden und soweit § 6 Abs. 5 BWG das 
ausgleichslose Anfallen von Überhangmandaten in einem Umfang zulässt, 
der den Grundcharakter der Bundestagswahl als Verhältniswahl aufhebt. 

Der Senat hat die Vorschriften des § 6 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2a BWG für 
nichtig und die Regelung über die ausgleichslose Zuteilung von 
Überhangmandaten (§ 6 Abs. 5 BWG) für unvereinbar mit dem Grundgesetz 
erklärt. Es fehlt somit an einer wirksamen Regelung des 
Sitzzuteilungsverfahrens für die Wahlen zum Deutschen Bundestag. Die 
zuvor geltenden Bestimmungen leben nicht wieder auf, weil das 
Bundesverfassungsgericht sie mit Urteil vom 3. Juli 2008 (BVerf¬GE 121, 
266) ebenfalls für verfassungswidrig und nur für eine - zwischenzeitlich 
verstrichene - Übergangsfrist weiter anwendbar erklärt hat. 

Über den Sachverhalt, der den drei miteinander verbundenen Verfahren 
zugrunde liegt, informiert die Pressemitteilung Nr. 28/2012 vom 7. Mai 
2012. Sie kann auf der Homepage des Bundesverfassungsgerichts eingesehen 
werden. 

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde: 

I. Effekt des negativen Stimmgewichts 
Bei den Wahlen zum Deutschen Bundestag darf die Verteilung der Mandate 
auf die Parteien entsprechend dem Verhältnis der Summen der 
Wählerstimmen im Grundsatz nicht dazu führen, dass die Sitzzahl einer 
Partei erwartungswidrig mit der auf diese oder eine konkurrierende 
Partei entfallenden Stimmenzahl korreliert (Effekt des negativen 
Stimmgewichts). Solche widersinnigen Wirkungszusammenhänge zwischen 
Stimmabgabe und Stimmerfolg beeinträchtigen nicht nur die 
Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit der Parteien, sondern 
verstoßen auch gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl, da es 
für den Wähler nicht mehr erkennbar ist, wie sich seine Stimmabgabe auf 
den Erfolg oder Misserfolg der Wahlbewerber auswirken kann. Ein 
Sitzzuteilungsverfahren ist mit der Verfassung unvereinbar, soweit es 
solche Effekte nicht nur in seltenen und unvermeidbaren Ausnahmefällen 
herbeiführt. 

§ 6 Abs. 1 Satz 1 BWG sieht vor, dass jedem Land ein nach der Wählerzahl 
bemessenes Kontingent von Sitzen zugewiesen wird, um die nur noch die 
Landeslisten der in dem Land angetretenen Parteien konkurrieren. Die 
Bildung der Ländersitzkontingente nach der Wählerzahl ermöglicht den 
Effekt des negativen Stimmgewichts, weil die auf das Land entfallende 
Sitzzahl nicht von einer vor der Stimmabgabe feststehenden Größe - wie 
etwa der Bevölkerung oder der Zahl der Wahlberechtigten - bestimmt wird, 
sondern an die jeweilige Wahlbeteiligung anknüpft. Der Effekt des 
negativen Stimmgewichts kann immer dann auftreten, wenn sich ein Zuwachs 
an Zweitstimmen der Landesliste einer Partei nicht auf deren Zahl an 
Sitzen auswirkt - weil die zusätzlichen Stimmen für die Zuteilung eines 
weiteren Sitzes nicht ausreichen oder weil der Landesliste aufgrund des 
Erststimmenergebnisses bereits mehr Wahlkreismandate als Listenmandate 
zustehen -, wenn jedoch zugleich eine mit dem Zweitstimmenzuwachs 
einhergehende Erhöhung der Wählerzahl das Sitzkontingent des Landes 
insgesamt um einen Sitz vergrößert. Dann kann der in diesem Land 
hinzugekommene Sitz auf eine konkurrierende Landesliste entfallen, oder 
die Landesliste derselben Partei kann in einem anderen Land einen Sitz 
verlieren. Entsprechendes gilt umgekehrt, wenn sich der 
Zweitstimmenverlust der Landesliste einer Partei auf deren 
Sitzzuteilungsergebnis nicht auswirkt, die damit einhergehende 
Verringerung der Wählerzahl aber das Sitzkontingent des Landes um einen 
Sitz verkleinert. Mit dem Eintritt derartiger Effekte ist immer dann zu 
rechnen, wenn - was mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist 
- eine Veränderung der Zweitstimmenzahl mit einer entsprechenden 
Veränderung der Wählerzahl einhergeht, etwa weil Wähler der Wahl 
fernbleiben. 

Der Effekt des negativen Stimmgewichts kann nicht etwa deshalb 
hingenommen werden, weil er sich nicht konkret vorhersehen lässt und von 
dem einzelnen Wähler kaum beeinflusst werden kann. Denn bereits objektiv 
willkürliche Wahlergebnisse lassen den demokratischen Wettbewerb um 
Zustimmung bei den Wahlberechtigten widersinnig erscheinen. Des Weiteren 
ist der Effekt des negativen Stimmgewichts keine zwangsläufige Folge 
einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl in 
Listenwahlkreisen auf Landesebene unter Verzicht auf bundesweite 
Listenverbindungen. Der Gesetzgeber ist nicht daran gehindert, diesen 
Ursachenzusammenhang innerhalb des von ihm geschaffenen Wahlsystems zu 
unterbinden, indem er zur Bemessung der Ländersitzkontingente statt der 
Wählerzahl etwa die Größe der Bevölkerung oder die Zahl der 
Wahlberechtigten als Grundlage für die Bestimmung der 
Ländersitzkontingente heranzieht. 

II. Zusatzmandate 
Die Vergabe von Zusatzmandaten nach § 6 Abs. 2a BWG verletzt ebenfalls 
die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der 
Parteien. Die Regelung zielt darauf ab, Rundungsverluste bei der 
Zuteilung von Sitzen auf Landesebene im Rahmen einer bundesweiten 
Verrechnung auszugleichen (sog. Reststimmenverwertung). 

An der Vergabe dieser zusätzlichen Bundestagssitze kann nicht jeder 
Wähler mit gleichen Er-folgschancen mitwirken. Denn durch die 
Reststimmenverwertung wird einem Teil der Wählerstimmen eine weitere 
Chance auf Mandatswirksamkeit eingeräumt. Diese Ungleichbehandlung ist 
nicht gerechtfertigt. Das vom Gesetzgeber verfolgte Ziel, 
Erfolgswertunterschiede, die durch die länderinterne Sitzzuteilung 
entstehen, auszugleichen, ist zwar von Verfassungs wegen nicht zu 
beanstanden. Die Regelung ist jedoch zur Erreichung dieses Ziels nicht 
geeignet. Sie berücksichtigt nur einseitig die Abrundungsverluste der 
Landeslisten einer Partei und lässt deren Aufrundungsgewinne außer 
Betracht. Dadurch werden zwar die bislang ohne Stimmerfolg gebliebenen 
Stimmen unter Umständen mandatswirksam, die vergleichsweise größere 
Erfolgskraft der bislang übergewichteten Stimmen bleibt jedoch 
unverändert bestehen. Somit werden Zusatzmandate nicht zur Herstellung 
von Erfolgswertgleichheit, sondern in Abweichung hiervon vergeben. Die 
Regelung ist auch nicht geeignet, eine mit den Überhangmandaten 
verbundene Verzerrung der Erfolgswertgleichheit auszugleichen. 

III. Überhangmandate 
Die Regelung des § 6 Abs. 5 BWG zu den Überhangmandaten verstößt 
insoweit gegen die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der 
Chancengleichheit der Parteien, als ausgleichslose Überhangmandate in 
einem Umfang zugelassen werden, der den Grundcharakter der 
Bundestagswahl als Verhältniswahl aufheben kann. Dies ist der Fall, wenn 
die Zahl der Überhangmandate etwa die Hälfte der für die Bildung einer 
Fraktion erforderlichen Zahl von Abgeordneten überschreitet. 

Das vom Gesetzgeber geschaffene Wahlsystem trägt - unbeschadet der 
Direktwahl der Wahlkreiskandidaten nach dem Verteilungsprinzip der 
Mehrheitswahl - den Grundcharakter einer Verhältniswahl. Denn durch die 
Anrechnung der Wahlkreismandate auf die Listenmandate der jeweiligen 
Partei wird die Gesamtzahl der Sitze so auf die Parteien verteilt, wie 
es dem Verhältnis der Summen der für sie abgegebenen Zweitstimmen 
entspricht, während die Erststimme grundsätzlich nur darüber 
entscheidet, welche Personen als Wahlkreisabgeordnete in den Bundestag 
einziehen. Übersteigt die Zahl der von einer Partei in den Wahlkreisen 
errungenen Sitze die ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehende 
Sitzzahl, so verbleiben die Sitze der Partei gleichwohl. Die Gesamtzahl 
der Sitze des Deutschen Bundestages erhöht sich in diesem Fall um die 
Unterschiedszahl, ohne dass ein erneuter Verhältnisausgleich 
stattfindet. 

Die Zuteilung von Überhangmandaten ohne Ausgleich oder Verrechnung 
behandelt Wählerstimmen im Sitzzuteilungsverfahren ungleich, weil 
dadurch neben der Zweitstimme auch die Erststimme Einfluss auf die 
Sitzverteilung im Bundestag gewinnt. Diese ungleiche Gewichtung der 
Wählerstimmen ist durch das verfassungslegitime Ziel, dem Wähler im 
Rahmen einer Verhältniswahl die Wahl von Persönlichkeiten zu 
ermöglichen, zwar grundsätzlich gerechtfertigt. Jedoch sind in dem vom 
Gesetzgeber geschaffenen System der mit der Personenwahl verbundenen 
Verhältniswahl Überhangmandate nur in einem Umfang hinnehmbar, der den 
Grundcharakter der Wahl als einer Verhältniswahl nicht aufhebt. 

Bei einem Anfallen von Überhangmandaten im Umfang von mehr als etwa 
einer halben Fraktionsstärke sind die Grundsätze der Gleichheit der Wahl 
sowie der Chancengleichheit der Parteien verletzt. Diese Größenordnung 
orientiert sich zum einen an dem nach der Geschäftsordnung des Deutschen 
Bundestages für den Fraktionsstatus erforderlichen Quorum von mindestens 
fünf vom Hundert der Mitglieder des Deutschen Bundestages und 
berücksichtigt zum anderen den mit der Neuregelung der sog. Berliner 
Zweitstimmen (§ 6 Abs. 1 Satz 4 letzte Alt. BWG) erneut bekräftigten 
Willen des Gesetzgebers, den Einfluss der Erststimme auf die Verteilung 
der Listenmandate möglichst einzudämmen. Im Hinblick auf die 
Notwendigkeit, den Wahlen zu den kommenden Bundestagen eine verlässliche 
rechtliche Grundlage zu geben und dem Risiko einer Auflösung des 
Parlaments im Wahlprüfungsverfahren zu begegnen, hält der Senat es für 
geboten, die gesetzlichen Wertungen in einem handhabbaren Maßstab 
zusammenzuführen, an den der Gesetzgeber anknüpfen kann. Daraus ergibt 
sich eine zulässige Höchstgrenze von etwa 15 Überhangmandaten. 

Unter Berücksichtigung der tatsächlichen Entwicklung bei den 
Überhangmandaten, deren Zahl seit der Wiedervereinigung deutlich 
zugenommen und zuletzt ein erhebliches Ausmaß erreicht hat, und 
angesichts der veränderten politischen Verhältnisse, die den Anfall von 
Überhangmandaten zunehmend begünstigen, ist mit beachtlicher 
Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass die Zahl der Überhangmandate den 
verfassungsrechtlich hinnehmbaren Umfang auf absehbare Zeit regelmäßig 
deutlich übersteigen wird. Der Gesetzgeber ist daher gehalten, 
Vorkehrungen zu treffen, die ein Überhandnehmen ausgleichsloser 
Überhangmandate unterbinden. 
 
Pressemitteilung Bundesverfassungsgericht, Nr. 58/2012 vom 25. Juli 2012

Urteil vom 25. Juni 2012
2 BvF 3/11
2 BvR 2670/11
2 BvE 9/11

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